Gefühle wollen gefüttert werden

 

„Wie? Was?“ Mein Klient schaut mich verständnislos an, als ich ihm das sage. Gerade eben berichtete er mir in unserer Coaching-Session, wie ihn seine Wut immer wieder Dinge tun lässt, die ihm danach leidtun.

Gefühle wie Ärger, Angst oder Trauer werden gern als „negative Gefühle“ bezeichnet. Werden sie zu mächtig, sind wir nicht mehr „Herr unserer Sinne“ und sagen oder tun Dinge, die wir später bereuen. In diesem Moment hatte das Limbische System (in ihm werden Emotionen verarbeitet) die Führung übernommen und das Zusammenspiel zwischen Emotionen, Gefühlen und planbaren, gesteuerten Handlungen war unausgeglichen.

Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Emotion und Gefühle?

Umgangssprachlich wird kaum ein Unterschied gemacht, wir sprechen sowohl von Emotionen und Gefühlen und meinen oft dasselbe.

In der Neurowissenschaft wird zwischen Emotionen und Gefühlen unterschieden: Emotionen sind körperliche Reaktionen, die auf einen Reiz folgen und nach außen sichtbar sind (z.B. in der Körperhaltung, Gestik und Mimik, dem zielgerichteten Verhalten wie Flucht oder Angriff). Sie werden im limbischen System generiert, das nicht dem Bewusstsein untersteht. Tückisch dabei ist, dass wir Reize aus unserem Umfeld oft unbewusst aufnehmen – diese unbewussten Reize dennoch unsere Emotionen ganz direkt beeinflussen.

Gefühle hingegen entstehen, wenn das Gehirn die Reaktionen des Körpers analysiert und bewusst wahrnimmt. Aus der bewussten Wahrnehmung einer Situation folgt dann unsere Interpretation: Welche Erfahrungen haben wir in der Vergangenheit mit ähnlichen Situationen gemacht? Aus dem Hippocampus, einem Teil des Gehirns, der Gedächtnisinhalte speichert, werden frühere Erlebnisse abgerufen und mit der gegenwärtigen Situation verglichen.

Durch diese individuelle, persönliche Bewertung entsteht in ein und derselben Situation für eine Person ein angenehmer, für eine andere Person ein unangenehmer Zustand.

 

Es gibt Menschen, die zucken unwillkürlich zusammen, wenn sie das Geräusch eines Zahnarzt-Bohrers hören. Gut, der Ton selbst ist nicht besonders angenehm doch das allein ist es nicht, was sie mit diesem Geräusch verbinden. Bei manchen Menschen erscheinen sofort Bilder vor ihrem inneren Auge, bei denen sie sich auf dem Zahnarztstuhl wiederfinden. Das Geräusch erinnert sie an eine Situation, in der dieser Bohrer zum Einsatz kam. Sie fühlten sich dem Zahnarzt und dem Bohrer ausgeliefert. Das Bohren im Zahn wiederum löste im Nachgang Schmerzen aus. Das bereitete Angst und Trauer. So erinnert allein das Hören des Geräusches des Zahnarztbohrers an einen unangenehmen und schmerzhaften Moment in der Vergangenheit und löst unangenehme Gefühle in der Gegenwart aus – ohne dass die Situation im Augenblick tatsächlich stattfindet.

Das Limbische System stellt die Verbindung: Geräusch = unangenehm her. Erst durch das Zusammenspiel mit dem Präfontalen Cortex entsteht ein Gesamtbild: denn durch das Hinzuschalten des PFC werden wir uns unserer Gefühle bewusst und sind in der Lage eine Situation zu beurteilen. „Der Verstand setzt wieder ein“, wir handeln nicht mehr instinktiv. Eine bewusste Aktivierung des Präfontalen Cortex ermöglicht es uns, eine Entlastung herstellen und die Gefühle zu regulieren.

 

So ist er Fall des Eisenbahnmitarbeiters Phineas Gage für die Wissenschaft sehr aufschlussreich gewesen: Bei seiner Arbeit machte Phineas Gage am 13. September 1848 einen folgenschweren Fehler in dessen Folge aufgrund einer Explosion eine knapp 1 m lange und 3 cm breite schwere Eisenstange durch seinen Kopf schoss und ihn schwer verletzte. Die Eisenstange trat auf der linken Seite von unten in die Augenhöhle ein, verletzte das Jochbein und das Frontalhirn. Dennoch blieb Phineas Gage bei vollem Bewusstsein und überlebte den schweren Unfall.

Die meisten kognitiven Funktionen und seine Motorik waren auch nach dem Ereignis unbeeinträchtigt. Seine Persönlichkeit jedoch verändert sich gravierend. So war der Vorarbeiter zuvor als ausgeglichen, zuverlässig und höflich beschrieben worden. Nach dem Unfall beschrieb ihn sein behandelnder Arzt als unbeständig, sprunghaft und respektlos. Er hatte starke Stimmungsschwankungen, lebte ziellos mit oft wechselnden Anstellungen. Seine ehemaliger Arbeitskollegen beschrieben, er sei „nicht länger Gage“.

Phineas Gage hatte durch die Schädigung des Frontalhirns die Fähigkeit zu vorausschauendem Handeln und der Regulation von Gefühlen verloren.

 

Während im vorangegangenen Beispiel das Leben von Phineas Gage durch Emotionen und Gefühle beherrscht wurde, wünschen sich viele Menschen, sie könnten so rational denkend wie Mr. Spock aus dem „Raumschiff Enterprise“ durchs Leben gehen. Mr. Spock kennt keine Emotionen und er kann besonders klar und – unterstellt wird  – richtig – analysieren und Entscheidungen treffen. Für viele Menschen erscheint diese Option verlockend, sie gehen davon aus, dass „vernünftige“ Entscheidungen die besseren sind.

Doch Gefühle sind für uns Menschen sehr wichtig, sie haben eine Funktion: so mahnt z.B. Angst uns zur Vorsicht, sie macht wachsam gegenüber Gefahren. Ekel veranlasst uns zu Hygiene und warnt vor verdorbener Nahrung. Wut kann uns die Kraft verleihen, einen Missstand zu beheben. Lernen wir etwas mit Freude, fällt es uns leicht. Wie schwer tun wir uns dagegen, wenn wir dem Lernstoff mit Ablehnung gegenüber treten.

In einem Übersichtsartikel für die Annual Review of Psychology kommt die Hirnforscherin Elizabeth Phelps (https://en.wikipedia.org/wiki/Elizabeth_A._Phelps) von der New York University Anfang dieses Jahres zu dem Schluss: „Um das menschliche Denken zu verstehen, müssen wir die Emotionen berücksichtigen.“

 

Gefühle sind flüchtig, eine vorrübergehende Empfindung – sie verlieren an Wirkung, wenn wir sie nicht „füttern“. So wie in der Parabel der zwei Wölfe beschrieben:

Es sagte ein Vater: „Mein Sohn, in jedem von uns tobt ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Der eine Wolf ist böse. Er kämpft mit ÄrgerNeidEifersucht, Angst, Sorgen, Gier, ArroganzSelbstmitleidLügen, Überheblichkeit, Egoismus und Missgunst. Der andere Wolf ist gut. Er kämpft mit LiebeFreudeFriedenHoffnungGelassenheit, Güte, Mitgefühl, Großzügigkeit, DankbarkeitVertrauen und Wahrheit.“
Der Sohn fragt: „Und welcher der beiden Wölfe gewinnt den Kampf?“ Der Vater antwortete ihm: „Der, den du fütterst.“